Realität und statistische Beurteilung klaffen in der kinder- und jugendärztlichen Versorgung im Westerwald weit auseinander

Der Kreisvorstand von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN äußert eine deutlich größere Besorgnis bezüglich der kinderärztlichen Versorgung im Westerwaldkreis, als dies von der Landesregierung und der Kassenärztlichen Vereinigung in der Antwort auf die Anfrage der CDU im Landtag vom 16.10.24 eingeschätzt wird. Die statistischen Zahlen bzw. deren Einordnung durch das Gesundheitsministerium weichen deutlich von der Realität im Westerwald ab. Die Kinderarztpraxen im Westerwald sind vielerorts überlastet und haben Aufnahmestopps für neue Patientinnen und Patienten verhängt. Auch in benachbarten Regionen wie Koblenz und Neuwied, die zeitweise den Bedarf noch mit auffangen konnten, sind die pädiatrischen Praxen aktuell derart überlastet, dass sie ebenfalls zunehmend gezwungen sind, keine neuen Patientinnen und Patienten mehr aufzunehmen. Dies führt insbesondere in der Erkältungssaison von Oktober bis März zu einer äußerst prekären Versorgungssituation für Kleinkinder und Säuglinge im Krankheitsfall. Ebenso können derzeit zahlreiche Vorsorgeuntersuchungen nicht wie in den Richtlinien vorgesehen durchgeführt werden.

Ein Blick auf die Geburten- und Bevölkerungszahlen im Westerwaldkreis verdeutlicht ebenfalls, dass eine reine Betrachtung der Versorgungsquote in diesem Zusammenhang den Dimensionen der Gesamtzahlen nicht gerecht wird. Zwischen 2021 und 2023 sanken im Westerwaldkreis zwar die Geburtenzahlen im Kreis von 9,4 (2021) über 8,8 (2022) auf 8,1 (2023) Geburten pro 1.000 Einwohner, doch dieser Rückgang der Pro-Kopf-Zahlen fällt in den absoluten Zahlen aufgrund der im gleichen Zeitraum durch Zuwanderung gewachsenen Gesamtbevölkerung nicht so stark aus. Damit bleibt der aktuelle und zukünftige Bedarf an pädiatrischer Versorgung trotz des Geburtenrückgangs weiter auf einem konstant hohen Niveau bestehen.

In Bezug auf die derzeitige Versorgungssituation sind laut Kassenärztlicher Vereinigung aktuell 10,75 Vollzeitstellen an Kinderärztinnen bzw. -ärzte im Westerwaldkreis vorhanden. Damit ist der notwendige Bedarf zu 86,66 % gedeckt. Bei einer 100-prozentigen Versorgungslage wären jedoch weitere ca. 1,5 Vollzeitstellen erforderlich. In der Betrachtung der Gesamtzahlen wird hier deutlich, welchen Unterschied diese zusätzlichen 1,5 Stellen hätten. Aktuell sind die 10,75 Vollzeitkräfte im Landkreis potenziell für die Gesundheitsversorgung von etwa 35.000 Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren zuständig, was einem Verhältnis von rund 3.250 Kindern pro Stelle entspricht. Bei einer vollständigen Bedarfsdeckung würde das Verhältnis jedoch bei ca. 2.850 Kindern pro Stelle liegen. Dieses Missverhältnis bedeutet praktisch, dass potenziell 400 Kinder mehr pro Arzt oder Ärztin versorgt werden müssen, als bei einer idealen Versorgung vorgesehen wäre. Diese Lücke in der Versorgung führt in der Realität zu erheblichen Herausforderungen für die pädiatrischen Praxen sowie für die Eltern und Kinder. Gerade neu zugezogene Familien und Eltern mit Neugeborenen berichten von erheblichen Schwierigkeiten, eine pädiatrische Praxis zu finden, die ihre Kinder noch aufnimmt. Für viele Familien bleibt im Krankheitsfall daher oft nur der Weg zu Allgemeinmedizinerinnen bzw. -medizinern, um eine zeitnahe Behandlung zu erhalten. Doch auch diese Gruppe der Ärztinnen und Ärzte ist bereits von einem Versorgungsmangel und einem zunehmenden Patientendruck überlastet. Zum anderen sind Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner fachlich nicht entsprechend geschult, um einen dauerhaften Ersatz bei der Behandlung von Kindern darzustellen.

Besonders kritisch sehen wir die gegenwärtige Methodik, wie Unter- bzw. Überversorgung in den entsprechenden Richtlinien definiert werden. Erst wenn der Versorgungsgrad unter 50 % sinkt, wird ein Zustand der Unterversorgung deklariert, während eine Überversorgung bereits bei einem Überschuss von nur 10 % festgestellt wird. Diese aus unserer Sicht rein aus wirtschaftlicher Perspektive definierten Grenzen stehen in einem deutlichen Widerspruch zu den Realitäten in ländlichen Räumen. Diese Unterscheidung lässt sowohl soziale Erfordernisse, räumliche Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Regionen als auch die demografische Struktur der Ärztinnen bzw. Ärzte außer Acht. Die Beurteilung der Versorgungslage sollte unserer Ansicht nach auf einer deutlich differenzierteren Analyse basieren, um Familien und Kinder verlässlich zu versorgen.

Hierfür muss z.B. die Altersstruktur der praktizierenden Kinderärztinnen und -ärzte in die Gesamtbeurteilung einfließen. Es macht für Eltern einen deutlichen Unterschied, wenn zahlreiche pädiatrische Praxen in absehbarer Zeit in den Ruhestand treten und zeitnah die Suche nach einer neuen Praxis erfolgen muss. Es ist daher nicht nachvollziehbar, warum die Landesregierung sowie die Kassenärztliche Vereinigung keine detaillierten Daten zur Altersverteilung der Kinderärztinnen und -ärzte vorlegt und hier nur auf die Altersstruktur aller Fachärzte verwiesen wird. Dabei sind Informationen zur Altersstruktur essenziell, um zukünftige Versorgungsengpässe in den einzelnen Fachrichtungen und insbesondere in der Kinder- bzw. Jugendmedizin zu erkennen sowie durch entsprechende Maßnahmen frühzeitig gegenzusteuern.

Des Weiteren ist es notwendig, auch räumliche Unterschiede in der Versorgungssituation zu erfassen. In einem großflächigen Landkreis wie dem Westerwald ist eine räumlich differenzierte Analyse der Versorgungssituation in der Kinder- und Jugendmedizin von höchster Bedeutung. Nur so können beispielsweise Versorgungsunterschiede zwischen dem oberen und unteren Westerwald aufgedeckt werden. Dadurch können gezieltere Maßnahmen zur Verbesserung der Situation angeregt werden. Wir fordern die Kassenärztliche Vereinigung und die Landesregierung daher auf, eine differenziertere und zukunftsgerichtete Analyse der Versorgungssituation anzustoßen, die über die reine Betrachtung der Anzahl an Kinderärztinnen und -ärzten hinausgeht. Nur so können passgenaue Maßnahmen zur Verbesserung der Lage entwickelt und umgesetzt werden, um den Kindern und Familien im Landkreis eine ausreichende medizinische Betreuung gewährleisten zu können.

Gleichzeitig spiegelt das Defizit in der ambulanten Kinder- und Jugendmedizin den allgemeinen Mangel an Ärztinnen und Ärzten im Westerwald wider. Es ist daher erforderlich, dass die Landkreisverwaltung zusammen mit den Verbandsgemeinden ein koordiniertes Maßnahmenpaket entwickelt, um Konkurrenz um die Ansiedlung von Ärztinnen und Ärzten zwischen den verschiedenen Verbandsgemeinden zu vermeiden. So ist es sinnvoll, dass Verbandsgemeinden im Verbund Medizinische Versorgungszentren (MVZ) errichten und diese unter kommunale Aufsicht stellen. Die Verbandsgemeinde Betzdorf-Gebhardshain in unserem Nachbarlandkreis Altenkirchen kann als sehr gelungenes Beispiel für ein kommunal geführtes MVZ angeführt werden. In Zusammenarbeit von 2-3 Verbandsgemeinden können diese kommunalen MVZ die Defizite in ihren Regionen gemeinsam reduzieren. So können dann auch, wo tatsächlich notwendig, pädiatrische Praxen integriert werden. Ebenso sollte das Programm „Gemeindeschwester plus“ auf alle Verbandsgemeinden übertragen bzw. ausgeweitet werden. Diese Gemeindeschwestern können neben Seniorinnen und Senioren auch Eltern bei gesundheitlichen Fragen beraten oder bei der Suche nach einer pädiatrischen Praxis unterstützen. Die Gemeindeschwestern können so vor Ort eine wertvolle, fachliche Unterstützung bei Problemen sein.